Trend-Essay: Warum man heute immer noch Karaoke singen möchte – Karaoke oder: Kunst kommt nicht vor Können
Ängstlich umklammert Kimberly Wallace das Mikrofon mit beiden Händen. Alle Augen sind auf sie gerichtet. Die ersten Töne des Evergreens „I don’t know what to do with myself“ von Dionne Warwick erklingen, Kims Stimme setzt ein – und die vollbesetzte Karaoke-Bar grölt. Obwohl sie keinen Ton trifft, feiert die Menge ihre Performance. Voller Inbrunst richtet sie ihre Gesangseinlage an ihren Verlobten Michael und erobert die Herzen des Publikums noch dazu.
Wie Cameron Diaz in der Liebeskomödie „Die Hochzeit meines besten Freundes“ greifen viele Freizeitsänger beim Karaoke zum Mikrofon. Wie Kimberly sind nicht alle ton- oder textsicher. Doch zählt eben nicht nur die gesangliche Qualität, sondern auch das in die Performance einfließende Herzblut. Im Gegensatz zur täglichen Dusch-Arie kann hier der Sänger seine Liebe zu einer bestimmten Musikrichtung oder Band mit anderen teilen. Das gemeinsame Erlebnis wird zum eigentlichen Event des Abends. Publikum und Performer schließen dabei einen stillen Vertrag ab: Der Sänger muss immer mit ein bisschen Selbstironie an das Ganze herangehen, ansonsten kann die Gunst der Zuschauer in Fremdschämen umschlagen. Schmettert eine junge Dame aus innerer Überzeugung Whitney Houstons Schmachtschlager „I will always love you“ und verzettelt sich maßlos bei den Koloraturen, erzeugt das beim Publikum eher Schadenfreude als Anerkennung. Wagt sich aber ein Sänger furchtlos und mit scherzhaft geschwellter Brust an „Bohemian Rhapsody“ von Queen, singt gerne mal der ganze Laden ausgelassen mit – und zwar alle Stimmen und Instrumente gleichzeitig („Galileo! Figaro! Magnifico!“). Karaoke ist eine Gruppenaktivität, ein Hobby, das den gemeinsamen Kneipenabend – ähnlich wie eine Runde Pool oder Darts – abrundet.
Endlich werden wie die Stars!
Interne Ranglisten sind natürlich nicht verboten. Auch haben sich über die Jahre hinweg, genauso wie bei anderen Pub-Aktivitäten, Wettbewerbe entwickelt. Erst kürzlich fand in Limburg das diesjährige Finale zu Germany’s (next) Irish Pub Karaoke Star statt. Ähnliche Randsportarten, bei denen die Show genauso im Vordergrund steht, wie Luftgitarre, Tanz-Karaoke oder „Lip Sync Battles“, finden weltweit Anhänger. Vor allem durch Plattformen wie YouTube und Vimeo verbreiten sich diese Kurzperformances viral. In der „Tonight Show“ brachte der amerikanische Moderator und Entertainer Jimmy Fallon „Lip Sync Battles“ ins Gespräch. Hier tritt er immer gegen einen prominenten Gast an: Jeder wählt zwei Songs aus und kann diese dann so exaltiert wie möglich performen. Legendär und online gefeiert: Tom Cruise mit „I can’t feel my face“, Melissa McCarthy mit „Colours of the wind“ und Drew Barrymore mit „I had the time of my life“ aus „Dirty Dancing“. Wer in den 90er-Jahren in Deutschland aufgewachsen ist, erinnert sich vielleicht noch an die „Mini Playback Show“ mit einem ähnlichen Konzept. Hier konnten Kinder ihre Lieblingsstars imitieren. Jimmy Fallon zeigt nun, dass auch Erwachsene an einem solchen Format Spaß haben können.
Anders als bei Karaoke und „Lip Sync Battles“ ist Playback für professionelle Musiker und ihre Fans negativ konnotiert. Erwartet man bei Konzerten doch eine Live-Performance, gilt das Lippenbewegen zu Musik aus der Dose als Betrug. Der künstlerische Ausdruck des selbstgeschriebenen Songs soll bei jedem Auftritt spürbar sein. Die Hair-Metal-Band Iron Maiden etwa wehrte sich 1986 gegen die Playback-Forderungen der deutschen Show P.I.T., indem sie kurzerhand ihre Instrumente auf der Bühne austauschten und so den Live-Eindruck sabotierten. Milli Vanilli hingegen führten sogar ihr Publikum hinters Licht, denn sie konnten weder komponieren noch singen und mussten nach einem peinlichen Fernsehauftritt, bei dem das Playbackband versagte, einige Musikpreise zurückgeben – was für sie das Karriere-Aus bedeutete.
Beim Karaoke zählt nur die Gunst des Publikums
Dass Musiker selbst ebenfalls gerne Karaoke singen, können sie seit kurzem auch in YouTube-Videos beweisen: Der britische Comedian James Corden lädt Sänger auf eine Auto-Spritztour ein, bei der sie gemeinsam in gelöster Atmosphäre plaudern und zum Radio singen. Seine Fahrgemeinschaft mit Adele wurde sogar zum meistgesehenen YouTube-Video aller Zeiten, und seine Fahrt mit Jennifer Lopez beweist, dass auch hier im beengten Raum des Autos Tanzbewegungen wie in einem Musikvideo möglich sind. Je selbstironischer sich die Stars in den Videos präsentieren, wie zum Beispiel Elton John, der sich über seine bunten Bühnenoutfits lustig macht, desto sympathischer wirken sie auf die Zuschauer. Denn beim Karaoke sind Profi- wie Hobby-Sänger gleichermaßen auf die Gunst des Publikums angewiesen. Denn im schlimmsten Falle heißt es dann einstimmig: „Drop the mic!”
Sofia Glasl, Barbara Oswald
Best of Karaoke-Hits
- Queen: „Bohemian Rhapsody“
- Bon Jovi: „It’s My Life“
- Oasis: „Wonderwall“
- ABBA: „Dancing Queen“
- John Travolta and Olivia Newton John: „You’re the one that I want“
- Four Non Blondes: „What’s Up”
- Frank Sinatra: „My Way“
- Bruce Springsteen: „Born to Run“
- Sonny and Cher: „I Got You, Babe“
- Prince: „Purple Rain“
Best of Karaoke-Moves
- Die Boygroup-Faust
- Der Präsentierteller
- Stop! (In the name of love!)
- Der No-no!
- Der Oops! (I Did It Again)
- Der Uncle-Sam-Finger
- Der rauchende Colt (für Fort- geschrittene: Kombination aus Boygroup-Faust und Uncle-Sam-Finger)
- Der Heartbeat
- Der fallende Regen
- Der Pulp Fiction
Die Kritik Schweinehund meets Rampensau erschien zuerst auf cult: Kulturzeitung der bayerischen Theaterakademie cult:online - Kritik.